WK II – H.Mun.Anst. Dessau (Kapen)

Die Errichtung einer Heeres-Munitionsanstalt (umgangssprachlich abgekürzt Muna, offiziell abgekürzt H.Mun.Anst.) in einem ausgedehnten Waldgebiet zwischen Dessau und Oranienbaum geht zurück auf einen Beschluss vom 30. Oktober 1935.

Das Waldstück hatte den Flurnamen Der Kaapen und lag an der Bahnstrecke von Dessau nach Oranienbaum – etwas abgelegen von Siedlungen. Dies führte dazu, das diesem Ort viele Namen gegeben wurden: Dessau (war die offizielle Bezeichnung), Sollnitz (nach dem nächst gelegenen Dorf), Oranienbaum (nach der Stadt, die am nächsten liegt), Kapen (in etwas abgewandelter Schreibweise des Flurnamens – in Archiven findet man interessanterweise auch diese Bezeichnung).

Kurz vorher – am 20. September 1935 – wurde die Auergesellschaft (Degea AG) vom Deutschen Reich (Fiskus des Wehrmachtsteils Heer), vertreten durch den Reichskriegsminister, beauftragt, Fabriken zur Herstellung von organischen Substanzen für die chemische Kriegführung zu errichten. Die Degea / Auer -Tochtergesellschaft Orgacid GmbH wurde bevollmächtigt und beauftragt, dafür operativ tätig zu werden. Aus Geheimhaltungsgründen sollte bei allen Arbeiten nur die Orgacid GmbH (bzw. die Auergesellschaft) nach außen hin auftreten – im Innenverhältnis waren die Unternehmen dem Reichskriegsministerium direkt unterstellt, das auch die Rechnungen bezahlte.

Von der Bauabteilung der Orgacid GmbH wurden in der Folgezeit eine Vielzahl von entsprechenden Bauprojekten vorangetrieben:

1937 – 1938 in Trostberg

1937 – 1941 in Hahnenberg

1939 – 1944 in Gendorf (am Standort der Anorgana GmbH)

1937 – 1944 in Ammendorf (am Standort der Orgacid GmbH selbst) – allein in Ammendorf wurden bis zum Kriegsende 25.976 Tonnen Senfgas hergestellt (das waren 86,2% der gesamten Senfgas-Produktion im Deutschen Reich)

1937 – 1944 in Munster (Kampfstoff – Füllstelle in der Heeres-Versuchsstelle)

1939 – 1944 in Hörpolding / St. Georgen (Kampfstoff – Füllstelle)

1939 – 1944 in Löcknitz (Kampfstoff – Füllstelle)

1940 – 1944 in Dessau (Kapen) (Kampfstoff – Füllstelle)

1940 – 1944 in Lübbecke (Kampfstoff – Füllstelle)

1943 – 1944 in Leese (Herstellung von Arsenpuder)

1943 – 1944 in Oerrel bei Munster (Kampfstoff – Füllstelle)

1943 – 1944 in Mockrehna (Kampfstoff – Füllstelle)

(Nach 1990 wurde von all diesen Standorten nur einer (Löcknitz) intensiv und systematisch auf mögliche sich noch heute dort befindliche Kontaminationen untersucht; dabei wurden u.a. extreme Dioxinbelastungen festgestellt….)

1935 begannen die Bauarbeiten zur Errichtung der Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen. Die Produktion lief 1938 an. Zunächst wurde hier herkömmliche Artillerie- Munition abgefüllt – die Munition wurde aus der Norddeutschen Munitionsfabrik Schönebeck an der Elbe AG angeliefert. Neben der Herstellung von Artilleriemunition wurde auch an neuen Waffen gearbeitet – hier in Kapen soll in den 1940er Jahren die Panzerfaust entwickelt und produziert worden sein.

Mit Beginn der Mobilmachung am 26. August 1939 wurde zur Sicherung der Munitionsanstalt das 706. Bataillon der 3. Landesschützenkompanie auf dem Gelände stationiert. Zu deren Unterbringung wurden südlich der eigentlichen Munitionsanstalt  mitten im Wald, im Bereich der ehemaligen Försterei Ellerborn, Baracken errichtet, die erst 1950 abgerissen wurden.

Zum Schutz vor Waldbränden wurde ein Feuerschutzstreifen um das Gelände der Muna angelegt. Die Abwässer der Munitionsanstalt wurden in den nahegelegenen Kapen-Graben geleitet.

Ab 1940 begann die östliche Erweiterung der Heeresmunitionsanstalt um eine Abfüllstelle für chemische Kampfstoffe auf Arsen-Basis – Senfgas und Lost wurden in Bomben und Artilleriegranaten abgefüllt. Dabei wurde der flüssige Kampfstoff bei Granaten direkt durch das Mundloch oder durch eine spezielle Öffnung in das Innere des Geschosses eingefüllt. Gekennzeichnet wurde deutsche Munition des zweiten Weltkrieges, die Kampfstoffe enthielt, durch farbige Ringe, wobei die Farbe die Kampfstoffwirkung markieren sollte.

Unmittelbar neben der Abfüllanlage wurde ein Hochbunker als Lagerbunker für die flüssigen Kampfstoffe errichtet. Er umfasste acht Zisternen mit einer Lagerkapazität von jeweils 600 Kubikmetern und steht noch heute! Vermutlich befand sich neben dem Lager-Hochbunker die Bahn-Entladestelle, die als Umfüllstelle fungierte. Aus den Kesselwagen wurden die flüssigen Kampfstoffe zunächst in unterirdische Lagertanks abgesaugt, die mit den Lagerkavernen im Bunker durch unterirdische Leitungen verbunden waren.

Die Bahngleise wurden verlängert und bildeten nun eine Ringbahn durch das gesamte Gelände, mit Anschluss an die Bahnstrecke nach Dessau. Im Wald an der Bahnstrecke wurde eine Wagensammelstelle – bzw. Übergabestelle eingerichtet. Vermutlich bestand auch ein provisorischer Haltepunkt für den Transport der Arbeiter. Die flüssigen Kampfstoffe wurden in Kesselwagen aus dem Hauptwerk der Orgacid GmbH in Ammendorf angeliefert.

Wie umfänglich die Produktion auf dem 200 Hektar großen Gelände tatsächlich war, zeigt die Tatsache, das im Jahre 1943 mehr als 1.150 Menschen in der Muna beschäftigt waren, davon waren etwa 300 Zwangsarbeiter.

Im April 1945 wurde die Heeresmunitionsanstalt zunächst von amerikanischen Truppen kampflos besetzt, die sie im Mai 1945 an die russischen Truppen übergaben. Vorher haben sich die Amerikaner alle Papiere und Dokumente angeeignet, die mit der Kampfstoff-Abfüllung zu tun hatten. Den russischen Truppen fielen noch 226 italienische Transportbehälter mit je 1,3 Kubikmeter Volumen in die Hände sowie ein Zug mit Kesselwagen – was sich darüber hinaus noch anfand (z.B. im zentralen Lager-Hochbunker), ist nicht bekannt.

Unter russischer Besatzung wurde der Standort Dessau-Kapen zur zentralen Vernichtungsstelle für chemische Kampfstoffe in der sowjetischen Besatzungszone. Von 1945 bis 1947 wurden hier unter sowjetrussischer Aufsicht flüssige Kampfstoffe vernichtet; die Vernichtung erfolgte in der Regel durch Verbrennen unter Zugabe von Dieselöl oder Chlorkalk. Die geregelte Verbrennung erfolgte im Heizhaus. Dadurch entstanden hochgiftige Dioxine, die als Rauch in die Luft abgegeben wurden, als Asche im Gelände verklappt wurde und sich als Ruß auf den Gebäuden niederschlug. Neben der geregelten Verbrennung im Heizhaus erfolgte auch ungeregelte Verbrennung: dazu wurden Gruben im Gelände ausgehoben, in denen die Kampfstoffe entweder verbrannt oder versickert (!) wurden. Die Gruben wurden anschließend verfüllt – genaue Aufzeichnungen darüber existieren nicht!

Ganz offensichtlich war die geregelte Verbrennung und der damit erforderliche sorgsame Umgang mit den Kampfstoffen ein langwieriger Prozess, der den Besatzern nicht schnell genug ging. Alleine in der sowjetischen Besatzungszone mussten (nach offiziellen Angaben) mehr als 62.000 Tonnen (!) an chemischen Kampfstoffen vernichtet werden. Kurzerhand ließen die russischen Besatzer im Jahre 1947 Kampfstoffe in die massenhaft in der Abfüllstelle aufgefundenen Geschosshülsen verfüllen (die Muna Dessau-Kapen war faktisch unzerstört), mit 25 Zügen á 40 Waggons nach Wolgast verfrachten, dort auf Schiffe verladen, und diese dann in der Ostsee versenkt – vor  Bornholm 35.000 Tonnen und weitere 2.000 Tonnen bei Gotland – dort liegen sie noch heute — die Behälter und Granaten dürften allmählich durchgerostet sein… Die vermeintliche Entsorgung im Meer ist dabei keine russische Erfindung. Alle haben es so gemacht, allen voran Amerikaner, Briten und Franzosen (im Nordmeer liegen 130.000 Tonnen und im Skagerrak wurden mindestens 42 mit Kampfstoffen beladene Schiffe versenkt) – welche Zeitbomben hier ticken, ist zum großen Teil unbekannt und wird geflissentlich ignoriert. Bei der Verladung im Wolgaster Hafen ins Wasser gefallene Geschosse wurden Mitte der 1950er Jahre geborgen und wieder nach Dessau-Kapen zur Verbrennung geschafft.

Technologiebedingt konnten die Lagerbunker nicht vollständig entleert werden. Die Lagerbunker hatten weder einen Ablauf noch einen Sumpf; abgepumpt wurde über ein Absaugrohr mittels Vakuum. Das Absaugrohr reichte jedoch nur bis knapp über den Boden, so dass eine nicht unerhebliche Menge flüssiger Kampfstoffe in den Lagerbunkern verblieb. Zur Neutralisation hat man Chlorkalk dazu gegeben, der sich jedoch nicht oder nur unzureichend mit den flüssigen Kampfstoffen vermischte.

Füllstutzen

Ein Füllstutzen schaut aus der Erde, die vermutlich einen Erdtank verbirgt

Die russischen Besatzer erklärten 1947 die chemischen Kampfstoffe als beseitigt, für sie war der Fall erledigt. Von dem weitläufigen Gelände der ehemaligen chemischen Munitionsanstalt beschlagnahmten sie den südlichen und den westlichen Teil des Geländes (im Prinzip das gesamte Gelände der Munitionsanstalt Kapen und weiteres Gelände im südlichen Bereich, jedoch ohne das Gelände der Abfüllstelle ) und richteten dort ihrerseits ein Waffenlager für Artilleriemunition und mutmaßlich auch für chemische Kampfstoffe ein, sowie einen Truppenübungsplatz. Der russische Standort wurde bis zum Abzug der Truppen im Jahre 1992 genutzt.  Die offizielle russische Bezeichnung dafür lautete Munitionslager Dessau ASB 3727.

Auf dem Gelände der ehemaligen Abfüllstelle entstand der VEB Chemiewerk Kapen, der bis 1991 in Betrieb war und Sprengstoffe, Handgranaten und Minen produzierte. Heute befindet sich auf dem Gelände der DESSORA Industriepark.

Quellen:
[Hrsg.] Friedrich, B. / Hoffmann, D. / Renn, J. / Schmaltz, F. / Wolf, M. „One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Development, Consequences“, 2017
[Hrsg.] Umweltbundesamt „Branchentypische Inventarisierung von Bodenkontaminationen auf Rüstungsaltlaststandorten“, 2 Bände, Berlin, 1993
Deutscher Bundestag, Drucksache 13/2733 vom 24.10.1995
John, H, / Lorenz, A. / Osterloh, S. „Die Farn- und Blütenpflanzen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Oranienbaumer Heide“, Halle, 2010
k+s, „Fallstudie Altlasten: Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen“
Schilling, Willy „Sachsen-Anhalt 1933 – 1945: der historische Reiseführer“, 2013

Kreypau – Kanalbrücke

Die Kreypauer Brücke über den unfertigen Saale – Elster – Kanal gehört zu den Kunstbauten, die in der Bauzeit zwischen 1933 und 1943 fertig gestellt wurden.

Hier bei Kreypau sollte der Kanal in die Saale münden. Allerdings querte die Kanaltrasse hier eine Straße, so dass ein Brückenbauwerk erforderlich wurde. Die Brücke wurde fertig gestellt, jedoch das Kanalbett fehlte. Nur unmittelbar am Brückenbauwerk selbst war das Kanalbett vorbereitet und betoniert.

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Kanalbrücke Kreypau – südliches Wiederlager und Teil des mit Grund- und Regenwasser gefüllten Kanalbettes unmittelbar an der Brücke – die ursprüngliche Straße, die mit der Brücke ersetzt werden sollte, verläuft in Höhe der Freileitung im Hintergrund

So ergab sich ein etwas kurioses Bild: eine Brücke über eine mir Regenwasser gefüllte feuchte Wiese ohne Straßenanbindung; wenige Meter entfernt die ursprüngliche Straße völlig intakt.

Kurz hinter der Brücke hätte der untere Vorhafen begonnen, an den sich die untere Schleusenstufe der Schleuse in Wüsteneutzsch angeschlossen hätte. Das Ende der Bauarbeiten am Saale – Elster – Kanal führte dazu, das weder die Schleuse in Wüsteneutzsch noch die fehlenden zwei Kilometer des Kanals bis zur Saale jemals fertig gestellt wurden.

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Kanalbrücke Kreypau – Blickrichtung Wüsteneutzsch. Dort, wo heute die Büsche und Bäume wachsen, sollte der Vorhafen Kreypau entstehen

Den zweiten Weltkrieg überlebte der Kanal und alle seine Kunstbauten unbeschädigt. Die russischen Besatzer demontierten die fertige (jedoch funktionslose) Brücke in Kreypau und verfrachteten sie sie als Reparationsleistung in die Sowjetunion.

Die leeren Wiederlager der Brücke stehen noch heute in der Landschaft.

Wüsteneutzsch – Schleusenruine

Die wohl spektakulärsten Relikte des unvollendet gebliebenen Saale – Elster – Kanals. Unglaublich, das ich so viele Jahre nichts von diesem Ort wußte, und auch nichts von dessen Geschichte.

Mitten im sachsen-anhaltinischen Nirgendwo ragen gigantische Betonreste aus grünen Bäumen und Büschen. 85 Meter lang, 12 m breit und etwa 15 m hoch präsentiert sich der verlassene Rohbau der oberen Schleusenkammer unweit des kleinen Dörfchens Wüsteneutzsch.

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Hier sollte der etwa 22 m betragende Höhenunterschied zwischen dem Kanalbett des Saale – Elster – Kanals und dem Niveau der sich in etwas zwei Kilometern entfernt befindlichen Saale überwunden werden.

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Lange Zeit war ein Schiffshebewerk geplant. Diese Idee wurde jedoch aus Kostengründen verworfen. Gleichwohl war das Schiffshebewerk lange die favorisierte Lösung für die Herausforderung, die der geplante Saale – Elster – Kanal stellte: der Kanal hatte zu wenige natürliche Zuflüsse, so dass die Wasserhaltung im Kanal schon ernsthaftes Problem darstellte. Die durch Schleusungen auftretenden Wasserverluste mussten unbedingt vermieden oder verringert werden. Da ein Schiffshebewerk als ideale Lösung nicht in Frage kam, wurde das Konzept der Sparschleuse konzipiert, bei der der Wasserverlust auf die Hälfte begrenz werden konnte.

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Beim Konzept der Sparschleuse wird das Wasser in seitlich der Schleusenkammer befindliche Sparbecken geleitet, die sich wiederum auf unterschiedlichen Höhenniveaus befinden. Nach dem zugrunde liegenden physikalischen Prinzip der kommunizierenden Röhren werden bei der Talschleusung zuerst die Sparbecken mir dem Wasser aus der Schleusenkammer befüllt. Der Rest der Schleusenkammer wird dann talseitig entleert. Bei der Bergschleusung wird die Schleusenkammer zunächst mit dem Wasser aus den Sparbecken gefüllt und nur der letzte Rest wird dem Oberwasser entnommen.

Um den Höhenunterschied von 22 m zu überwinden, sah das Projekt in Wüsteneutzsch eine Schleusentreppe aus zwei Sparschleusen mit jeweils elf Metern Hub vor. Zwischen den Schleusen befand sich die ca. 350 m lange Zwischenhaltung. An der oberen Schleusentreppe und an der unteren Schleusentreppe war jeweils ein Vorhafen nebst Wendestelle von 512 Metern Länge geplant. Die gesamte Schleusenanlage hätte sich mit dem unteren Vorhafen bis kurz vor das Dorf Kreypau erstreckt, bei der die Einfahrt in die Saale erfolgen sollte.

Erst recht spät, 1939, erfolgte der Baubeginn für die Schleusentreppe in Wüsteneutzsch. Geplant war, auch hier den Kanal mit einer Straßenbrücke zu überqueren. Die Wiederlager der geplanten Brücke sind noch gut zu erkennen.

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Nach Beginn des zweiten Weltkrieges verzögerten sich die Bauarbeiten wegen Mangel an Arbeitern und Material mehr und mehr. Schließlich wurden sämtliche Bauarbeiten Anfang 1943 eingestellt – der Saale – Elster – Kanal war als nicht kriegswichtig eingestuft. Sämtliche Baustellen wurden beräumt. Übrig blieb ein fast fertiger Kanal. Von der geplanten Schleusentreppe war die obere Schleuse zu 75% fertig gestellt. Von der unteren Schleuse war nur die Baugrube fertig gestellt, die sich im Laufe der Jahrzehnte mit Grund- und Regenwasser füllte und zu einem beliebten Badesee wurde.

Saale – Elster – Kanal

Ein unvollendetes Kanal-Bauprojekt mit teilweise spektakulären Überresten und einer gewissen Tragik: der Südflügel des Mittellandkanals, der Leipzig mit der Saale (und somit dem deutschen Wasserstraßennetz) verbinden sollte. Das Kanalprojekt hatte viele Namen: Saale-Elster-Kanal, Elster-Saale-Kanal, Südflügel Mittellandkanal, seit Neuestem (und nunmehr offiziell) heißt er Saale-Leipzig-Kanal.

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Skizze des Kanalverlaufes auf einer Informationstafel am östlichen Kanalende

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Eisenbahn noch nicht erfunden (die erste Bahn in Deutschland fuhr erst 1835 auf einer kurzen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth); Transporte erfolgten entweder mühsam auf dem Landweg oder – effektiver und schneller – auf den Wasserstraßen: Flüsse und Kanäle. Das aufstrebende Leipzig hatte einen entscheidenden Standortnachteil: es lag an keiner großen Wasserstraße; das benachbarte Halle, das ebenso prosperierte, lag an der schiffbaren und viel befahrenen Saale; Torgau, Riesa und Dresden an einer der größten natürlichen deutschen Wasserstraße schlechthin: der Elbe. Schon früh kam die Idee auf, durch eine künstliche Wasserstraße Leipzig an das Wasserstraßennetz anzuschließen. Verschiedene Kanalbau- Projekte konkurrierten um die Gunst der Regierungen der Königreiche Sachsen und Preußen (die die Genehmigung erteilen mussten) und um die Gunst von Investoren: Leipzig- Aken, Leipzig – Torgau, Elster – Leipzig – Saale, Leipzig – Wallwitzhafen (an der Elbe bei Dessau), Leipzig – Riesa. Durch die Napoleonischen Kriege (von 1805 bis 1815) kamen sämtliche Projektplanungen zum Erliegen.

Der Leipziger Rechtsanwalt, Stadtverordnete und Unternehmer Ernst Carl Erdmann Heine brachte die Anbindung Leipzigs an das Wasserstraßennetz wieder auf die Tagesordnung. Auf eigene Kosten begann er 1856 mit dem Bau eines Kanals von der Weißen Elster in Richtung des Leipziger Industriegebietes Plagwitz. Die Bauarbeiten erwiesen sich als äußerst schwierig und kostspielig – die gewählte Strecke erwies sich als sehr felsig. So dauerte es bis 1861, ehe das erste Teilstück bis zur Zschocherschen Straße seiner Bestimmung übergeben werden konnte.

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Kanalbauarbeiten in Leipzig – Manueller Massenaushub und Transport mit Feldbahn westlich der Zschocherschen Straße. Blick nach Osten zur König-Johann-Brücke Bildnachweis: SLUB/ Deutsche Fotothek / Goetz, Paul http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70036501 (Public Domain Marc 1.0)

Auf Bestreben der Leipziger Handelskammer und vieler Leipziger Unternehmer gründete sich 1872 der Elster-Saale-Canal-Verein, der zum einen Lobbyarbeit für die geplante Wasserstraße machte, und andererseits versuchte, finanzielle Mittel für den Bau aufzubringen.

1887 erreichten die Kanalbauarbeiten Lindenau – immer noch von Carl Heine privat finanziert. Hier bestand Anschluss an die inzwischen neu errichtete Eisenbahnstrecke nach Riesa. 1888 gründet Carl Heine die Leipziger Westend-Baugesellschaft AG und überträgt sein Vermögen und seine Grundstücke auf diese AG. Carl Heine stirbt kurz darauf. Unter der Regie der Westend-Baugesellschaft wird der Kanalbau weiter vorangetrieben. 1893 sind erst 2,5 km fertiggestellt – das Stück von der Weißen Elster durch Leipzig-Plagwitz bis kurz vor Lindenau. Der Kanal endet wenige Meter vor dem geplanten Kanalhafen in Leipzig Lindenau an der Lützner Straße.

Die Kostenfrage war – auch damals schon – die entscheidende. Das Königlich Sächsische Finanzministerium befürwortete grundsätzlich die Anbindung Leipzigs über eine Querverbindung von der Weißen Elster über Leipzig nach Kreypau an der Saale, weist jedoch in einem Schreiben vom 26. Juli 1893 darauf hin, dass „die Interessenten auch zu erwägen haben, in welcher Weise sie die Kosten für die Ausführung des Canals aufzubringen gedenken, da, sogern die Regierung bereit ist, die Ausführung durch die ihr zur Verfügung stehenden technischen Kräfte zu unterstützen, doch auf eine Herstellung desselben auf Kosten des Staates nicht gerechnet werden darf.“

Ein Weiterbau mit privaten Mittel scheint aufgrund des enormen Kapitalbedarfs inzwischen aussichtslos. Die Eisenbahn hat sich als billiges Transportmittel durchgesetzt. Seit 1840 verband eine Bahnstrecke Leipzig mit Magdeburg an der Elbe; in Leipzig Plagwitz (dem Leipziger Industrieschwerpunkt) – in direkter Konkurrenz zum Kanal-Neubauprojekt wurde von 1886 bis 1888 eine Eisenbahn für den Güterverkehr errichtet. Diese Strecke hatte bis 1925 Bestand.

1898 werden die Bauarbeiten am Kanal eingestellt. Der Kanalabschnitt von der Weißen Elster bis nach Lindenau besteht noch heute und heißt zu Ehren seines Erbauers Karl-Heine-Kanal.

1920 – die politische Welt in Deutschland hatte sich grundlegend verändert – wurde durch die Regierung des Deutschen Reiches beschlossen, Deutschlands längste künstliche Wasserstraße, den Mittellandkanal, zu vollenden. Zu dessen Bestandteil wurde auch der Saale – Elster – Kanal gemacht, der hier als Südflügel des Mittellandkanals bezeichnet wird. Inflation und Wirtschaftskrise verhinderten zunächst jeden Baubeginn. Erst 1926 werden die entsprechenden Staatsverträge zum Bau des Mittelland-Kanals unterzeichnet und ausdrücklich festgehalten, das der Südflügel gleichzeitig zu bauen und fertig zu stellen ist.

Während am eigentlichen Mittellandkanal nunmehr fleißig gebaut wird, tut sich am Saale-Elster-Kanal nichts.

Erst ab dem Sommer 1933 wurde wieder am Saale-Elster-Kanal gebaut, es entstand eine der größten Baustellen seiner Zeit. Bis zu 2.000 Arbeiter waren hier gleichzeitig beschäftigt; möglich wurde das durch das Reichsgesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit. Ab 1934 wurde im Dreischicht-System gearbeitet.

Ab 1937 zog man nach und nach Arbeitskräfte und Materialien ab, die Fertigstellung des Mittellandkanals wurde massiv forciert. Der Verlust an Arbeitskräften konnte zunächst durch den Einsatz von Großgeräten wie Baggern und Förderbändern kompensiert werden.

Bei Einstellung der Bauarbeiten im Frühjahr 1943 – das Kanalbauprojekt war kein kriegswichtiges Projekt – waren von den 19 Kilometern des geplanten Kanals 11,3 Kilometer fertiggestellt und bewässert, für weitere 5,5 Kilometer war der Erdaushub bereits erfolgt; in Leipzig Lindenau war ein halbfertiger Binnenhafen entstanden, der weder einen Anschluss an den fertig gestellten Teilbereich des Saale-Elster-Kanal hatte und auch keine Verbindung zum innerstädtischen Karl-Heine-Kanal mit Anschluss an die Weiße Elster. Dieser Zustand sollte sich auch nicht mehr ändern.

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Kanalhafen in Leipzig-Lindenau um 1940 – rechts das ausgehobene aber nicht geflutete Hafenbecken. Bildnachweis: SLUB/ Deutsche Fotothek / Lindner, P. http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70041193 (Freier Zugang – Rechte vorbehalten.)

Erst im Jahre 2015 wurde eine Verbindung hergestellt zwischen dem Karl-Heine-Kanal und dem Hafen Lindenau, der von Wassersportlern genutzt werden soll. Die Verbindung vom Hafen Lindenau zum Saale-Elster-Kanal (der Durchstich durch die Lyoner Straße / Plautstraße am nordwestlichen Ende des Hafens Lindenau) fehlt bis heute.

Der bewässerte Kanal endet westlich von Günthersdorf im Nichts. Die ausgehobene Kanaltrasse bis zum Ort Wüsteneutzsch ist als deutlicher Grünstreifen in der Landschaft gut zu erkennen.

Kanalaushub bei Wüsteneutzsch

Kanalaushub bei Wüsteneutzsch

Ein großer Teil der fertig gestellten Kunstbauten auf der Kanalstrecke ist noch völlig intakt, darunter 12 Straßenbrücken und eine Bahnbrücke, sowie die erforderlichen Düker und Bachdurchlässe. Die bereits fertig gestellten Sperrtore westlich von Burghausen und westlich von Günthersdorf, mit denen zu Wartungszwecken der Kanal abschnittsweise gesperrt und teilentleert hätte werden können, wurden in den 1950er Jahren ausgebaut und anderweitig verwendet.

Spektakulär präsentiert sich die Bauruine der oberen Schleuse im Dorf Wüsteneutzsch.

Schleusenruine Wüsteneutzsch

Schleusenruine in Wüsteneutzsch – mitten im Nirgendwo

Von der Schleusentreppe, die die 22 m Höhenunterschied zum Saaletal überwinden sollte, wurde nur die obere Schleuse im Rohbau fertig. Die Baugrube für die untere Schleuse ist inzwischen durch Grund- und Regenwasser geflutet. Ungebaut blieben die letzten zwei (!) Kilometer des Kanals bis zur Saale nach Kreypau. Von der Kreypauer Kanalbrücke stehen heute nur noch die Widerlager.

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Reste der Kanalbrücke und des Kanalbettes bei Kreypau kurz vor der geplanten Saalemündung

 

Quellen:
Becker, Dirk „Der Südflügel des Mittlellandkanals“, 2009
Goetz, Paul „Der Elster – Saale – Canal von Leipzig nach Creypau“, Leipzig, 1893
Kolditz, Gerald „Das Kanalprojekt von Riesa nach Leipzig im Kontext der Leipziger Kanalfrage Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts“; in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2012
Lattermann, Eberhard „Die Bedeutung des Elster – Saale – Kanals (Leipziger Kanals)“ in: [Hrsg.] Technische Universität Dresden, Institut für Wasserbau und technische Hydromechanik „Dresdner Wasserbauliche Mitteilungen 13“,  Dresden, 1998, S. 413 – 420
SLUB – Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

Oranienbaum – VEB Chemiewerk Kapen

Dieser Ort hat mir Angst gemacht! Das Wissen, was hier alles über 60 Jahre produziert wurde, im Boden versickerte, teilweise entsorgt wurde und noch heute in Resten auf dem weitläufigen Gelände zu finden ist, lässt einem bei jedem Schritt durch das Gelände frösteln.

Hier, auf dem Gelände der ehemaligen Heeres-Munitionsanstalt Dessau, wurden bis 1945 flüssige Kampfstoffe abgefüllt, die nicht durch Einatmen, sondern durch Kontakt mit der Haut aufgenommen werden. Bis 1945 wurden schätzungsweise 58.000 Tonnen Giftgas in Granaten abgefüllt. Produziert wurden im Deutschen Reich etwa 70.000 Tonnen – der nicht abgefüllte „Rest“ verblieb bei Kriegsende in den abfüllenden Munitionsanstalten!

1935 begannen die Bauarbeiten zur Errichtung der Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen. Hier wurden sowohl herkömmliche Artillerie- Munition als auch chemische Kampfstoffe in Geschosse abgefüllt. Die Produktion lief 1938 an. Östlich an die Muna angrenzend wurde auf einem ähnlich großen Gelände 1940 eine Kampfstoff-Füllanlage errichtet. Während des zweiten Weltkrieges wurden hier in der Hauptsache chemische Kampfstoffe auf Arsen-Basis abgefüllt.

Über die ehemalige Ladestelle Kapen bestand ein Gleisanschluß an die Strecke nach Dessau. Im Gelände der Muna verlief die Bahnstrecke als Ringbahn, die sowohl die Munitionsanstalt als auch die Abfüllanlage erschloss.

Im April 1945 wurde die Heeresmunitionsanstalt zunächst von amerikanischen Truppen kampflos besetzt, die sie im Mai 1945 an die russischen Truppen übergaben. Den russischen Truppen fielen noch 226 italienische Transportbehälter mit je 1,3 Kubikmeter Volumen in die Hände sowie ein Zug mit Kesselwagen – was sich darüber hinaus noch an fand, ist nicht bekannt.

Unter russischer Besatzung wurde der Standort Dessau-Kapen (Oranienbaum) zur zentralen Vernichtungsstelle für chemische Kampfstoffe in der sowjetischen Besatzungszone. Von 1945 bis 1947 wurden hier unter sowjetrussischer Aufsicht die flüssigen Kampfstoffe vernichtet; die Vernichtung erfolgte in der Regel durch Verbrennen unter Zugabe von Dieselöl oder Chlorkalk. Die geregelte Verbrennung erfolgte im Heizhaus. Dadurch entstanden hochgiftige Dioxine, die als Rauch in die Luft abgegeben wurden, als Asche im Gelände verklappt wurde und sich als Ruß auf den Gebäuden niederschlug. Neben der geregelten Verbrennung im Heizhaus erfolgte auch ungeregelte Verbrennung: dazu wurden Gruben im Gelände ausgehoben, in denen die Kampfstoffe entweder verbrannt oder versickert (!) wurden. Die Gruben wurden anschließend verfüllt – genaue Aufzeichnungen darüber existieren nicht!

Ganz offensichtlich war die geregelte Verbrennung und der damit erforderliche sorgsame Umgang mit den Kampfstoffen ein langwieriger Prozess, der den Besatzern nicht schnell genug ging. Alleine in der sowjetischen Besatzungszone mussten (nach offiziellen Angaben) mehr als 62.000 Tonnen (!) vernichtet werden. Kurzerhand ließen die russischen Besatzer im Jahre 1947 Kampfstoffe in die massenhaft gefundenen Geschosshülsen verfüllen (die Muna Dessau-Kapen war faktisch unzerstört), mit 25 Zügen  a 40 Waggons nach Wolgast verfrachten, dort auf Schiffe verladen, und diese dann in der Ostsee versenken – vor  Bornholm 35.000 Tonnen und weitere 2.000 Tonnen bei Gotland – dort liegen sie noch heute — die Behälter und Granaten dürften allmählich durchgerostet sein… Die vermeintliche Entsorgung im Meer ist dabei keine russische Erfindung. Alle haben es so gemacht, allen voran Amerikaner, Briten und Franzosen (im Nordmeer liegen 130.000 Tonnen und im Skagerrak wurden mindestens 42 mit Kampfstoffen beladene Schiffe versenkt) – welche Zeitbomben hier ticken, ist zum großen Teil unbekannt und wird geflissentlich ignoriert. Bei der Verladung im Wolgaster Hafen ins Wasser gefallene Geschosse wurden Mitte der 1950er Jahre geborgen und wieder nach Dessau-Kapen zur Verbrennung geschafft.

Technologiebedingt konnten die Lagerbunker nicht vollständig entleert werden. Die Lagerbunker hatten weder einen Ablauf noch einen Sumpf; abgepumpt wurde über ein Absaugrohr mittels Vakuum. Das Absaugrohr reichte jedoch nur bis knapp über den Boden, so daß eine nicht unerhebliche Menge flüssiger Kampfstoffe in den Lagerbunkern verblieb. Zur Neutralisation hat man Chlorkalk dazu gegeben, der sich jedoch nicht oder nur unzureichend mit den flüssigen Kampfstoffen vermischte.

Füllstutzen

Ein Füllstutzen schaut aus der Erde, die vermutlich einen Erdtank verbirgt

Die russischen Besatzer erklärten 1947 die chemischen Kampfstoffe als beseitigt, für sie war der Fall erledigt. Von dem weitläufigen Gelände der ehemaligen chemischen Munitionsanstalt beschlagnahmten sie den südlichen und den westlichen Teil des Geländes (im Prinzip das gesamte Gelände der Munitionsanstalt Dessau, jedoch ohne das Gelände der Abfüllstelle) und richteten dort ihrerseits ein Waffenlager sowie einen Truppenübungsplatz ein. Der russische Standort wurde bis zum Abzug der Truppen im Jahre 1994 genutzt.

Unmittelbar angrenzend – nunmehr ausschließlich auf dem Gelände der ehemaligen Abfüllstelle –  lief die Vernichtung der flüssigen Kampfstoffe (die ja angeblich vollständig vernichtet waren) munter weiter, diesmal unter deutscher Hoheit und unter der verharmlosenden Betriebsbezeichnung VEB Gärungschemie Dessau. Seit 1952 erfolgte die Verbrennung nicht mehr im Heizhaus, sondern in einer speziellen Verbrennungsanlage.

Kapen 03

Die Verbrennungsanlage hatte eine Kapazität von 1.000 bis 1.500 Litern pro Stunde eines Gemisches aus flüssigen Kampfstoffen mit Spiritus, wobei der Spiritus-Anteil mindestens doppelt so hoch war, wie der Anteil der Kampfstoffe.  Später wurde der Spiritus durch ein synthetisches Heizöl ersetzt, das auf Braunkohlebasis hergestellt wurde.

Der Standort Dessau-Kapen war zur zentralen Vernichtungsanlage für chemische Kampfstoffe in der DDR geworden. Neben der Verbrennung erfolgte in einer eigens errichteten Neutralisationsanlage die Neutralisation der Kampfstoffe durch Hinzufügen und Verrühren von Chlorkalk, Bunakalk und Wasser. Dadurch entstanden breiige arsenhaltige Schlämme und belastete Abwässer, deren Verbleib unbekannt ist – vermutlich wurden sie einfach im Gelände verklappt.

Unter anderem wurden mindestens bis 1959 chemische Kampfstoffe aus der Produktionanlage der Orgacid GmbH aus dem in der Nähe liegenden Halle-Ammendorf nach Oranienbaum (Dessau-Kapen) geschafft, um sie dort zu verbrennen. Als 1990 in Halle-Ammendorf ein versiegelter Lagerbunker geöffnet wurde, fand man dort immer noch 80 Tonnen flüssiger Kampfstoffe – offensichtlich waren den russischen Besatzern und den DDR-Behörden die Entsorgung einfach zu teuer, so dass man auf Zeit spielte und auf Vergessen hoffte.

Die noch vorhandenen Kampfstoffreste in der ehemaligen Munitionsanstalt Dessau-Kapen wurden 1959 in einen Hochbunker verbracht und dort eingemauert. Dort liegen sie noch heute – mitten in einem Gewerbegebiet. Schätzungen gehen davon aus, das alleine in diesem Hochbunker 150 bis 200 Tonnen Kampfstoffgemisch und deren Zersetzungsprodukte lagern.

Lagerbunker 1

Harmlos sieht er aus… der heute noch mit Kampfstoffresten teilweise gefüllte Lagerbunker

Was im Boden lagert, ist unbekannt, da systematische Bodenuntersuchungen nicht vorgenommen wurden. In den 1950er Jahren wurde der Erdboden des Geländes mit 4.000 Tonnen Kies etwa 3 m hoch aufgefüllt. Die Gräben, in denen die Kampfstoffe verbrannt wurden, erhielten ebenfalls eine Kiesfüllung.

Eine riesige Menge an Flüssigkeiten – angeblich ein neutralisiertes Kampfstoff-Wasser-Gemisch – wurde in die umgebenden Gewässer bzw. in die Weiße Elster gekippt.

Etwa 160 Kubikmeter arsenhaltige Schlämme wurden in einen Keller verbracht; mit Kampfstoffen verseuchtes Erdreich aus der Neutralisationsanlage wurde zunächst in einem Bunker zwischen gelagert und 1982 aus diesem wieder entfernt – wohin die verseuchte Erde gebracht wurde, ist unbekannt.

Auf dem nunmehr mit Kies aufgefüllten Gelände der ehemaligen Füllstelle der Heeresmunitionsanstalt Dessau (Kapen) entstand ab Ende der 1950er Jahre der VEB Chemiewerk Kapen. Der verharmlosende Name verschleiert den Zweck dieses VEB: es war eine Waffenschmiede der DDR. Hier wurden Handgranaten, Landminen, Zünder und ab 1966 vor allem die berüchtigten Selbstschussanlagen hergestellt. Die Geheimhaltung war so groß, das selbst heute niemand darüber spricht.

Das Werk hatte einen äußerem Bereich, in dem sich die weniger kritischen Unternehmensteile befanden (z.B. Wasserwerk, Klärwerk, Kantine, Personalabteilung, Dienststelle der Staatssicherheit etc.) und einen inneren Bereich.

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ehemaliges Verwaltungsgebäude und Sitz der Personalabteilung im äußeren Bereich des Chemiewerkes Kapen

Der innere Bereich war ein besonders gesicherter Bereich und beherbergte die Produktions- und Abfüllanlagen. Hier hatte nur „befugtes Personal“ Zutritt.

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Wachgebäude am Zugang zum besonders gesicherten Produktionsbereich

Erstaunlicherweise ist der Produktionsbereich relativ frei zugänglich. Die Natur erobert sich Stück für Stück dieses schrecklichen Ortes zurück. Der Blick durch das Dickicht von Bäumen, hüfthohem Gras, Büschen und Unterholz zeigt eine scheinbar unüberschaubare Anzahl von Gebäuden. Durch das Grün sind die Gebäude oft nur sehr schwer zu erkennen.

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Überall im Produktionsbereich finden sich Splitterschutzwände – entweder direkt im Gelände oder unmittelbar an den Gebäuden. Hier herrschte hohe Explosionsgefahr!

Vorsichtiges Herantasten an das eine oder andere Gebäude, jeden Schritt überlegen und darüber nachdenken, ob man wohl einen Blick riskieren kann… Die Geschichte dieses Ortes im Hinterkopf sorgt für permanente Gänsehaut.

Die meisten der Gebäude sind so gut wie leer – jedoch weis man nie, was hier im Boden versickerte oder sich sonst irgendwo versteckt. In einem der Produktionsgebäude wurde die hölzerne Treppe zum Bürotrakt restlos entfernt – offensichtlich wollte man nicht, das man einen gründlicheren Blick in die obere Etage werfen kann… Schutt knirscht unter den Füßen und nichts ist zu hören. Kein Laut dringt hierher. Es ist, als befände man sich auf einem anderen Planeten.

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Der Blick in die Gebäude ist oft surreal – mitunter wechseln sich helle Hallen mit dunklen Gängen ab, von denen kleinere Büros und Labore abgehen. Hin und wieder gelingt der Blick auf undefinierbare Hinterlassenschaften – bloß nichts berühren und nicht zu lange hier aufhalten.

In einem kleinen Raum, der ein Pausenraum hätte sein können, findet sich eine kleine Korkplatte, beklebt mit den Etiketten verschiedener Biersorten, keine davon dürfte in der DDR erhältlich gewesen sein… Nur sporadisch finden sich überhaupt Reste von Schildern oder Warntafeln. Scheinbar wurde hier gründlich auf- bzw. ausgeräumt…

Teilweise stehen die einzelnen Gebäude so dicht nebeneinander, das nur ein schmaler Gang dazwischen blieb.

Bei vielem Beton, der im Wald herumsteht und Rohren, die aus der Erde schauen, hat man keinerlei Idee, wozu es einmal diente.

Die Bedeutung dieser Waffenschmiede wird auch dadurch illustriert, das aus dem seit den 1930er Jahren bestehenden Anschlußgleis an die Dessau-Wörlitzer-Eisenbahn in der Mitte der 1980er Jahre am Haltepunkt Kapen ein kleines Containerterminal eingerichtet.wurde. Dieses Terminal diente ausschließlich als Industrieverladestelle für das Chemiewerk Kapen und als Wagenübergabestelle für das in der Nachbarschaft liegende russische Munitionslager. Wo genau sich die Bahntrasse auf dem Gelände des Chemiewerkes befunden hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Allein 1980 wurde im VEB Chemiewerk Kapen die gewaltige Anzahl von 765.000 Handgranaten, 200.000 Landminen vom Typ PPM sowie eine nicht genannte Menge an gelatinösen Sprengstoffen für den Bergbau und die Verwendung als Pioniermunition hergestellt. Ab 1981 erfolgten Erweiterungsbauten, um eine neue Fertigungsstrecke für Panzerminen (Typ TM 62 P 3) aufzubauen; ab 1985 sollten pro Jahr 1,3 Mio Stück produziert werden.

Nach der friedlichen Revolution 1989 war mit dieser Rüstungsschmiede schnell Schluss, der Betrieb wurde am 30. September 1991 eingestellt. Es scheint, als würden seit dem alle Beteiligten am liebsten den Mantel des Schweigens legen über diesen Ort langjähriger Rüstungsproduktion.

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Quellen:
[Hrsg.] Friedrich, B. / Hoffmann, D. / Renn, J. / Schmaltz, F. / Wolf, M. „One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Development, Consequences“, 2017
Deutscher Bundestag, Drucksache 13/2733 vom 24.10.1995
John, H, / Lorenz, A. / Osterloh, S. „Die Farn- und Blütenpflanzen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Oranienbaumer Heide“, Halle, 2010
k+s, „Fallstudie Altlasten: Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen“
„Konzeption zur Entwicklung der Sprengstoffindustrie der Deutschen Demokratischen Republik bis 1990 zu Sicherstellung der Landesverteidigung“(Geheime Kommandosache Nr. 43/80 vom 30.09.1980); in: Protokoll der 62. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 21. November 1980; Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg BArch DVW 1 / 39523 S. 377 ff.
Schilling, Willy „Sachsen-Anhalt 1933 – 1945: der historische Reiseführer“, 2013