Oranienbaum – VEB Chemiewerk Kapen

Dieser Ort hat mir Angst gemacht! Das Wissen, was hier alles über 60 Jahre produziert wurde, im Boden versickerte, teilweise entsorgt wurde und noch heute in Resten auf dem weitläufigen Gelände zu finden ist, lässt einem bei jedem Schritt durch das Gelände frösteln.

Hier, auf dem Gelände der ehemaligen Heeres-Munitionsanstalt Dessau, wurden bis 1945 flüssige Kampfstoffe abgefüllt, die nicht durch Einatmen, sondern durch Kontakt mit der Haut aufgenommen werden. Bis 1945 wurden schätzungsweise 58.000 Tonnen Giftgas in Granaten abgefüllt. Produziert wurden im Deutschen Reich etwa 70.000 Tonnen – der nicht abgefüllte „Rest“ verblieb bei Kriegsende in den abfüllenden Munitionsanstalten!

1935 begannen die Bauarbeiten zur Errichtung der Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen. Hier wurden sowohl herkömmliche Artillerie- Munition als auch chemische Kampfstoffe in Geschosse abgefüllt. Die Produktion lief 1938 an. Östlich an die Muna angrenzend wurde auf einem ähnlich großen Gelände 1940 eine Kampfstoff-Füllanlage errichtet. Während des zweiten Weltkrieges wurden hier in der Hauptsache chemische Kampfstoffe auf Arsen-Basis abgefüllt.

Über die ehemalige Ladestelle Kapen bestand ein Gleisanschluß an die Strecke nach Dessau. Im Gelände der Muna verlief die Bahnstrecke als Ringbahn, die sowohl die Munitionsanstalt als auch die Abfüllanlage erschloss.

Im April 1945 wurde die Heeresmunitionsanstalt zunächst von amerikanischen Truppen kampflos besetzt, die sie im Mai 1945 an die russischen Truppen übergaben. Den russischen Truppen fielen noch 226 italienische Transportbehälter mit je 1,3 Kubikmeter Volumen in die Hände sowie ein Zug mit Kesselwagen – was sich darüber hinaus noch an fand, ist nicht bekannt.

Unter russischer Besatzung wurde der Standort Dessau-Kapen (Oranienbaum) zur zentralen Vernichtungsstelle für chemische Kampfstoffe in der sowjetischen Besatzungszone. Von 1945 bis 1947 wurden hier unter sowjetrussischer Aufsicht die flüssigen Kampfstoffe vernichtet; die Vernichtung erfolgte in der Regel durch Verbrennen unter Zugabe von Dieselöl oder Chlorkalk. Die geregelte Verbrennung erfolgte im Heizhaus. Dadurch entstanden hochgiftige Dioxine, die als Rauch in die Luft abgegeben wurden, als Asche im Gelände verklappt wurde und sich als Ruß auf den Gebäuden niederschlug. Neben der geregelten Verbrennung im Heizhaus erfolgte auch ungeregelte Verbrennung: dazu wurden Gruben im Gelände ausgehoben, in denen die Kampfstoffe entweder verbrannt oder versickert (!) wurden. Die Gruben wurden anschließend verfüllt – genaue Aufzeichnungen darüber existieren nicht!

Ganz offensichtlich war die geregelte Verbrennung und der damit erforderliche sorgsame Umgang mit den Kampfstoffen ein langwieriger Prozess, der den Besatzern nicht schnell genug ging. Alleine in der sowjetischen Besatzungszone mussten (nach offiziellen Angaben) mehr als 62.000 Tonnen (!) vernichtet werden. Kurzerhand ließen die russischen Besatzer im Jahre 1947 Kampfstoffe in die massenhaft gefundenen Geschosshülsen verfüllen (die Muna Dessau-Kapen war faktisch unzerstört), mit 25 Zügen  a 40 Waggons nach Wolgast verfrachten, dort auf Schiffe verladen, und diese dann in der Ostsee versenken – vor  Bornholm 35.000 Tonnen und weitere 2.000 Tonnen bei Gotland – dort liegen sie noch heute — die Behälter und Granaten dürften allmählich durchgerostet sein… Die vermeintliche Entsorgung im Meer ist dabei keine russische Erfindung. Alle haben es so gemacht, allen voran Amerikaner, Briten und Franzosen (im Nordmeer liegen 130.000 Tonnen und im Skagerrak wurden mindestens 42 mit Kampfstoffen beladene Schiffe versenkt) – welche Zeitbomben hier ticken, ist zum großen Teil unbekannt und wird geflissentlich ignoriert. Bei der Verladung im Wolgaster Hafen ins Wasser gefallene Geschosse wurden Mitte der 1950er Jahre geborgen und wieder nach Dessau-Kapen zur Verbrennung geschafft.

Technologiebedingt konnten die Lagerbunker nicht vollständig entleert werden. Die Lagerbunker hatten weder einen Ablauf noch einen Sumpf; abgepumpt wurde über ein Absaugrohr mittels Vakuum. Das Absaugrohr reichte jedoch nur bis knapp über den Boden, so daß eine nicht unerhebliche Menge flüssiger Kampfstoffe in den Lagerbunkern verblieb. Zur Neutralisation hat man Chlorkalk dazu gegeben, der sich jedoch nicht oder nur unzureichend mit den flüssigen Kampfstoffen vermischte.

Füllstutzen

Ein Füllstutzen schaut aus der Erde, die vermutlich einen Erdtank verbirgt

Die russischen Besatzer erklärten 1947 die chemischen Kampfstoffe als beseitigt, für sie war der Fall erledigt. Von dem weitläufigen Gelände der ehemaligen chemischen Munitionsanstalt beschlagnahmten sie den südlichen und den westlichen Teil des Geländes (im Prinzip das gesamte Gelände der Munitionsanstalt Dessau, jedoch ohne das Gelände der Abfüllstelle) und richteten dort ihrerseits ein Waffenlager sowie einen Truppenübungsplatz ein. Der russische Standort wurde bis zum Abzug der Truppen im Jahre 1994 genutzt.

Unmittelbar angrenzend – nunmehr ausschließlich auf dem Gelände der ehemaligen Abfüllstelle –  lief die Vernichtung der flüssigen Kampfstoffe (die ja angeblich vollständig vernichtet waren) munter weiter, diesmal unter deutscher Hoheit und unter der verharmlosenden Betriebsbezeichnung VEB Gärungschemie Dessau. Seit 1952 erfolgte die Verbrennung nicht mehr im Heizhaus, sondern in einer speziellen Verbrennungsanlage.

Kapen 03

Die Verbrennungsanlage hatte eine Kapazität von 1.000 bis 1.500 Litern pro Stunde eines Gemisches aus flüssigen Kampfstoffen mit Spiritus, wobei der Spiritus-Anteil mindestens doppelt so hoch war, wie der Anteil der Kampfstoffe.  Später wurde der Spiritus durch ein synthetisches Heizöl ersetzt, das auf Braunkohlebasis hergestellt wurde.

Der Standort Dessau-Kapen war zur zentralen Vernichtungsanlage für chemische Kampfstoffe in der DDR geworden. Neben der Verbrennung erfolgte in einer eigens errichteten Neutralisationsanlage die Neutralisation der Kampfstoffe durch Hinzufügen und Verrühren von Chlorkalk, Bunakalk und Wasser. Dadurch entstanden breiige arsenhaltige Schlämme und belastete Abwässer, deren Verbleib unbekannt ist – vermutlich wurden sie einfach im Gelände verklappt.

Unter anderem wurden mindestens bis 1959 chemische Kampfstoffe aus der Produktionanlage der Orgacid GmbH aus dem in der Nähe liegenden Halle-Ammendorf nach Oranienbaum (Dessau-Kapen) geschafft, um sie dort zu verbrennen. Als 1990 in Halle-Ammendorf ein versiegelter Lagerbunker geöffnet wurde, fand man dort immer noch 80 Tonnen flüssiger Kampfstoffe – offensichtlich waren den russischen Besatzern und den DDR-Behörden die Entsorgung einfach zu teuer, so dass man auf Zeit spielte und auf Vergessen hoffte.

Die noch vorhandenen Kampfstoffreste in der ehemaligen Munitionsanstalt Dessau-Kapen wurden 1959 in einen Hochbunker verbracht und dort eingemauert. Dort liegen sie noch heute – mitten in einem Gewerbegebiet. Schätzungen gehen davon aus, das alleine in diesem Hochbunker 150 bis 200 Tonnen Kampfstoffgemisch und deren Zersetzungsprodukte lagern.

Lagerbunker 1

Harmlos sieht er aus… der heute noch mit Kampfstoffresten teilweise gefüllte Lagerbunker

Was im Boden lagert, ist unbekannt, da systematische Bodenuntersuchungen nicht vorgenommen wurden. In den 1950er Jahren wurde der Erdboden des Geländes mit 4.000 Tonnen Kies etwa 3 m hoch aufgefüllt. Die Gräben, in denen die Kampfstoffe verbrannt wurden, erhielten ebenfalls eine Kiesfüllung.

Eine riesige Menge an Flüssigkeiten – angeblich ein neutralisiertes Kampfstoff-Wasser-Gemisch – wurde in die umgebenden Gewässer bzw. in die Weiße Elster gekippt.

Etwa 160 Kubikmeter arsenhaltige Schlämme wurden in einen Keller verbracht; mit Kampfstoffen verseuchtes Erdreich aus der Neutralisationsanlage wurde zunächst in einem Bunker zwischen gelagert und 1982 aus diesem wieder entfernt – wohin die verseuchte Erde gebracht wurde, ist unbekannt.

Auf dem nunmehr mit Kies aufgefüllten Gelände der ehemaligen Füllstelle der Heeresmunitionsanstalt Dessau (Kapen) entstand ab Ende der 1950er Jahre der VEB Chemiewerk Kapen. Der verharmlosende Name verschleiert den Zweck dieses VEB: es war eine Waffenschmiede der DDR. Hier wurden Handgranaten, Landminen, Zünder und ab 1966 vor allem die berüchtigten Selbstschussanlagen hergestellt. Die Geheimhaltung war so groß, das selbst heute niemand darüber spricht.

Das Werk hatte einen äußerem Bereich, in dem sich die weniger kritischen Unternehmensteile befanden (z.B. Wasserwerk, Klärwerk, Kantine, Personalabteilung, Dienststelle der Staatssicherheit etc.) und einen inneren Bereich.

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ehemaliges Verwaltungsgebäude und Sitz der Personalabteilung im äußeren Bereich des Chemiewerkes Kapen

Der innere Bereich war ein besonders gesicherter Bereich und beherbergte die Produktions- und Abfüllanlagen. Hier hatte nur „befugtes Personal“ Zutritt.

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Wachgebäude am Zugang zum besonders gesicherten Produktionsbereich

Erstaunlicherweise ist der Produktionsbereich relativ frei zugänglich. Die Natur erobert sich Stück für Stück dieses schrecklichen Ortes zurück. Der Blick durch das Dickicht von Bäumen, hüfthohem Gras, Büschen und Unterholz zeigt eine scheinbar unüberschaubare Anzahl von Gebäuden. Durch das Grün sind die Gebäude oft nur sehr schwer zu erkennen.

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Überall im Produktionsbereich finden sich Splitterschutzwände – entweder direkt im Gelände oder unmittelbar an den Gebäuden. Hier herrschte hohe Explosionsgefahr!

Vorsichtiges Herantasten an das eine oder andere Gebäude, jeden Schritt überlegen und darüber nachdenken, ob man wohl einen Blick riskieren kann… Die Geschichte dieses Ortes im Hinterkopf sorgt für permanente Gänsehaut.

Die meisten der Gebäude sind so gut wie leer – jedoch weis man nie, was hier im Boden versickerte oder sich sonst irgendwo versteckt. In einem der Produktionsgebäude wurde die hölzerne Treppe zum Bürotrakt restlos entfernt – offensichtlich wollte man nicht, das man einen gründlicheren Blick in die obere Etage werfen kann… Schutt knirscht unter den Füßen und nichts ist zu hören. Kein Laut dringt hierher. Es ist, als befände man sich auf einem anderen Planeten.

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Der Blick in die Gebäude ist oft surreal – mitunter wechseln sich helle Hallen mit dunklen Gängen ab, von denen kleinere Büros und Labore abgehen. Hin und wieder gelingt der Blick auf undefinierbare Hinterlassenschaften – bloß nichts berühren und nicht zu lange hier aufhalten.

In einem kleinen Raum, der ein Pausenraum hätte sein können, findet sich eine kleine Korkplatte, beklebt mit den Etiketten verschiedener Biersorten, keine davon dürfte in der DDR erhältlich gewesen sein… Nur sporadisch finden sich überhaupt Reste von Schildern oder Warntafeln. Scheinbar wurde hier gründlich auf- bzw. ausgeräumt…

Teilweise stehen die einzelnen Gebäude so dicht nebeneinander, das nur ein schmaler Gang dazwischen blieb.

Bei vielem Beton, der im Wald herumsteht und Rohren, die aus der Erde schauen, hat man keinerlei Idee, wozu es einmal diente.

Die Bedeutung dieser Waffenschmiede wird auch dadurch illustriert, das aus dem seit den 1930er Jahren bestehenden Anschlußgleis an die Dessau-Wörlitzer-Eisenbahn in der Mitte der 1980er Jahre am Haltepunkt Kapen ein kleines Containerterminal eingerichtet.wurde. Dieses Terminal diente ausschließlich als Industrieverladestelle für das Chemiewerk Kapen und als Wagenübergabestelle für das in der Nachbarschaft liegende russische Munitionslager. Wo genau sich die Bahntrasse auf dem Gelände des Chemiewerkes befunden hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Allein 1980 wurde im VEB Chemiewerk Kapen die gewaltige Anzahl von 765.000 Handgranaten, 200.000 Landminen vom Typ PPM sowie eine nicht genannte Menge an gelatinösen Sprengstoffen für den Bergbau und die Verwendung als Pioniermunition hergestellt. Ab 1981 erfolgten Erweiterungsbauten, um eine neue Fertigungsstrecke für Panzerminen (Typ TM 62 P 3) aufzubauen; ab 1985 sollten pro Jahr 1,3 Mio Stück produziert werden.

Nach der friedlichen Revolution 1989 war mit dieser Rüstungsschmiede schnell Schluss, der Betrieb wurde am 30. September 1991 eingestellt. Es scheint, als würden seit dem alle Beteiligten am liebsten den Mantel des Schweigens legen über diesen Ort langjähriger Rüstungsproduktion.

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Quellen:
[Hrsg.] Friedrich, B. / Hoffmann, D. / Renn, J. / Schmaltz, F. / Wolf, M. „One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Development, Consequences“, 2017
Deutscher Bundestag, Drucksache 13/2733 vom 24.10.1995
John, H, / Lorenz, A. / Osterloh, S. „Die Farn- und Blütenpflanzen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Oranienbaumer Heide“, Halle, 2010
k+s, „Fallstudie Altlasten: Heeresmunitionsanstalt Dessau-Kapen“
„Konzeption zur Entwicklung der Sprengstoffindustrie der Deutschen Demokratischen Republik bis 1990 zu Sicherstellung der Landesverteidigung“(Geheime Kommandosache Nr. 43/80 vom 30.09.1980); in: Protokoll der 62. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 21. November 1980; Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg BArch DVW 1 / 39523 S. 377 ff.
Schilling, Willy „Sachsen-Anhalt 1933 – 1945: der historische Reiseführer“, 2013

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